Das Gebiss der Kaninchen
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Aufbau
Das Milchgebiss umfasst 16 Zähne und wird gegen das bleibende Gebiss mit 28 Zähnen gewechselt. Der Zahnwechsel beginnt bereits im Mutterleib und ist in der vierten bis fünften Lebenswoche abgeschlossen. Im Oberkiefer befinden sich dann auf jeder Seite zwei Incisivi (ein großer Schneidezahn und ein dahinter sitzender Stiftzahn), drei Prämolaren (= Vorbackenzähne) und drei Molaren (= Backenzähne); im Unterkiefer je Seite ein großer Schneidezahn, zwei Prämolaren und drei Molaren.
Die hinter dem Schneidezahnpaar des Oberkiefers verborgen sitzenden Stiftzähne sind von Geburt an vorhanden und überdauern den Zahnwechsel. Sie unterscheiden das Gebiss der Kaninchen von dem der Nagetiere, welches über keine Stiftzähne verfügt.
Der Kiefer des Kaninchens weist eine sogenannte Anisognathie auf, d. h. Ober- und Unterkiefer sind unterschiedlich breit. Der Oberkiefer ist dabei breiter als der Unterkiefer.
Zahnformeln und -bezeichnungen
Um Gebisse und einzelne Zähne zu beschreiben, kommen verschiedene Formeln und Schemata zum Einsatz:
- Zahnformel Milchgebiss: Oberkiefer 2030 (= pro Seite 2 Schneidezähne, 0 Eckzähne, 3 Prämolaren, 0 Molaren); Unterkiefer 1020 => 16 Zähne
- Zahnformel bleibendes Gebiss: Oberkiefer 2033, Unterkiefer 1023 => 28 Zähne
- Oberkieferzähne rechts: 106, 107, 108 (Prämolaren), 109, 110, 111 (Molaren) oder P2, P3, P4, M1, M2, M3 mit Seitenangabe
- Oberkieferzähne links: 206, 207, 208 (Prämolaren), 209, 210, 211 (Molaren) oder P2, P3, P4, M1, M2, M3 mit Seitenangabe
- Unterkieferzähne links: 307, 308 (Prämolaren), 309, 310, 311 (Molaren) oder P3, P4, M1, M2, M3 mit Seitenangabe
- Unterkieferzähne rechts: 407, 408 (Prämolaren), 409, 410, 411 (Molaren) oder P3, P4, M1, M2, M3 mit Seitenangabe
- Schneidezähne: 101, 102 (rechter Oberkieferfront- bzw. -stiftzahn), 201, 202 (linker Oberkieferfront- bzw. -stiftzahn), 301 (linker Unterkiefer), 401 (rechter Unterkiefer)
Lebenslanges Zahnwachstum
Die Schneidezähne (Nagezähne) der Herbivoren, zu denen auch unsere Kaninchen gehören, werden natürlicherweise zum Abtrennen (Pflanzen, Blätter, ...) bzw. Abnagen (Zweige, Möhren, …) von Nahrung eingesetzt.
Die Nahrungszerkleinerung erfolgt vorzugsweise, indem das Futter durch horizontale Bewegungen der Backenzähne zermahlen, genauer gesagt mit Hilfe der physiologischen Zahnspitzen zerschnitten wird. Dies ist anatomisch dadurch möglich, dass es sich bei dem Kiefergelenk des Kaninchens um ein auf einer Längsfurche basierendes, sogenanntes Walzengelenk handelt (bei Meerschweinchen, Degus und Chinchillas hingegen um ein Schlittengelenk).
Infolge der Mahlbewegungen während des Abbeiß- und Kauvorgangs schleifen sich sowohl die Backen- als auch die Schneidezähne von Ober- und Unterkiefer gegenseitig ab - entgegen der landläufigen Meinung, der Zahnabrieb erfolge durch "hartes Futter" oder "das Benagen von Ästen". Weder Brot, Körner noch Äste oder sonstige Nahrungsmittel sind auch nur annähernd so hart wie Zahnschmelz und können ihn daher unmöglich abreiben.
Im Gegenteil sind Brot, Knabberstangen, Körner usw. massiv gesundheitsschädlich für Kaninchen:
Sie sind für die karger Kost angepassten Tiere viel zu kalorienhaltig; zudem wird das häufig enthaltene Gluten nicht vertragen und kann zu Darmentzündungen sowie Frischfutterunverträglichkeiten führen. Letztlich wirkt die enthaltene Stärke sich negativ auf das Darmmileu aus und begünstigt dadurch Verdauungsstörungen.
Körner, Knabberstangen usw. werden nicht zermahlen, sondern durch Quetschbewegungen zerkleinert - dieser unphysiologische Kauvorgang stellt eine Dauerbelastung für die Zahnwurzeln, die Kieferknochen und die Kiefergelenke dar. Nicht selten kommt es in der Folge zu Zahnwurzelabszessen, die nur operativ behandelt werden können.
Wurzelgemüse ist für den Zahnabrieb wenig hilfreich, mitunter sogar kontraproduktiv: Es besteht zu einem großen Teil aus Zucker bzw. Stärker und enthält vergleichsweise wenig Fasern. Dementsprechend ist es deutlich schneller zerkaut und zugleich viel nahrhafter als Grünfutter. Eine gründliche mahlende Kautätigkeit bleibt folglich aus. Wird Wurzelhgemüse im Ganzen oder in großen Stücken angeboten, schälen die Kaninchen es mit den Schneidezähnen streifenweise ab und zermahlen es anschließend.
Reicht man Wurzelgemüse hingegen in Form von kleinen Würfeln, Chips o. ä. (oft in getrockneter Form als "gesunde Leckerlis"), nehmen die Kaninchen es im Ganzen auf und zerkauen es anschließend durch unphysiologische Quetschbewegungen. Je härter das Futter dabei ist, desto mehr schadet es dem Gebiss.
Solange eine reichliche Auswahl an frischen Kräutern und Zweigen zur Verfügung steht, sollte Wurzelgemüse möglichst nicht bzw. nur in Leckerli-Mengen gefüttert werden. Nur in Ausnahmefällen (z.B. bei untergewichtigen Tieren) sind etwas größere Mengen ratsam.
Zweige sind nicht etwa deshalb wichtig, weil das Kaninchen sich "beim Benagen die Schneidezähne abnutzen", sondern stellen aus anderen Gründen ein ausgesprochen wertvolles Futtermittel dar: Zum einen enthalten sie Rohfaser, welche einen langwierigen Kauvorgang und somit einen intensiven Zahnabschliff zur Folge hat. Zum anderen sind sie reich an Nährstoffen, der austretende Harz hat eine antibakterielle Wirkung, und letztlich eignen sie sich ideal zur Befriedigung des natürlichen Nagetriebs.
Einen ebenfalls positiven Einfluss auf den Zahnabrieb hat die im Wiesengrün enthaltene Kieselsäure. Ferner trifft dies auch auf Sand und Erde zu, die in kleinen Mengen mit der natürlichen Nahrung aufgenommen werden. Die winzigen Kristalle bzw. Steinchen wirken während des Kauvorgangs wie Schmirgelpapier auf die Zähne und fördern dadurch den Abschliff.
Mit dem Trocknungsvorgang zu Heu gehen die Struktur der Kieselsäure sowie Sand- und Erdbeimengungen verloren. Daher ist es für Kaninchen mit chronischen Zahnfehlstellungen von ganz besonderer Bedeutung, dass sie vorwiegend mit Wiesengrün ernährt werden. Leider empfehlen trotzdem noch immer viele Tierärzte, Zahnpatienten "hauptsächlich mit Heu" zu ernähren...
Dem Zahnabrieb wird durch ein ständiges, lebenslanges Wachstum sämtlicher Zähne entgegengewirkt, wobei die im Unterkiefer befindlichen Zähne schneller wachsen - bei den Schneidezähnen sind es durchschnittlich 2,4 mm bzw. 3,5 mm, bei den Backenzähnen 1,4 mm bzw. 1,5 mm in der Woche. Durch diese anatomische Besonderheit halten sich Wachstum und Abrieb idealerweise gegenseitig die Waage.
Von allen Nahrungsmitteln ist langfaseriges Grünfutter wie Blätter, Gräser und Wiesenkräuter am besten zum Zahnabschliff geeignet. Zwar wird auf Heu gleicher Menge ebenso lange gemahlen, allerdings verliert die im Gras enthaltene Kieselsäure durch den Trocknungsvorgang ihre Wirkung. Zudem sorgt der hohe Flüssigkeitsanteil des Frischfutters dafür, dass das Kaninchen davon eine größere Menge aufnehmen muss als vom Heu, um satt zu werden, und dementsprechend mehr gemahlen wird.
Das Zahnwachstum erfolgt jedoch unabhängig davon, womit die Tiere ernährt werden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass bei einem ungeeigneten Futterangebot, welches die natürlichen Kieferbewegungen nicht in ausreichendem Maße unterstützt, ein übermäßiges Zahnwachstum erfolgt. Dies kann für Kaninchen fatale Folgen haben.
Zahnfehlstellungen und ihre Folgen
Neben erheblichen Behinderungen beim Fressen, die überlange Zähne verursachen, sind schwere Gewebeschäden vorprogrammiert: Die Schneidezähne des Unterkiefers wachsen bei ungenügendem Abschliff ungehindert an den oberen Schneidezähnen vorbei gen Nase oder in die oberen Schneidezähne hinein und können sie grotesk verbiegen.
Die Schneidezähne des Oberkiefers hingegen wachsen bei ausbleibendem Anschliff bogenförmig in Richtung Mäulchen. In Extremfällen bohren sie sich bis in den Gaumen hinein.
Durch einen ungleichmäßigen oder ungenügenden Zahnabrieb der Backenzähne entstehen oft Zahnspitzen, die schmerzhafte Verletzungen der Zunge und der Wangen verursachen.
Durch den übermäßigen Druck, den die überlangen Zähne von Ober- und Unterkiefer aufeinander ausüben, werden die Zahnwurzeln regelrecht in den Kieferknochen "gestempelt". Die Folge ist ein sogenanntes retrogrades (d.h. rückwärts erfolgendes) Zahnwachstum, welches Entzündungsprozesse und eine zunehmende Auflösung des Knochengewebes nach sich zieht. Kieferdurchbrüche und Abszesse sind typische Folgen. Sie äußern sich am Unterkiefer durch knochenharte Beulen oder sichtbare, prall-elastische Schwellungen.
Im Oberkiefer hingegen brechen retrograd wachsende Zähne häufig in den Tränen-Nasen-Kanal oder in die Augenhöhle durch. Sie verursachen dadurch einseitigen, eitrigen Augen- oder Nasenausfluss oder ein Hervortreten des Augapfels. Durch letzteren ist oftmals der Lidschluss beeinträchtigt, wodurch das Auge austrocknet. Dies ist für das Kaninchen hochgradig schmerzhaft und führt zum Verlust des Auges, wenn keine sofortige Therapie erfolgt!
Retrogrades Wachstum entsteht ebenfalls durch unphysiologische Kaubewegungen (Quetschbewegungen) der Backenzähne, v.a. durch harte Futterbrocken wie Körner, Gemüsechips und Erbsenflocken. Das kraftvolle Zubeißen belastet die Zahnwurzeln massiv.
Beachten Sie: Die Schneidezähne stellen immer einen Spiegel der Backenzähne dar! Schräg abgeschliffene Schneidezähne deuten darauf hin, dass sich der gesamte Kiefer des Tieres in einer Schieflage befindet.
Nicht immer kommt dies primär durch eine Fehlernährung oder ein Problem in der Maulhöhle zustande: Insbesondere Widderkaninchen und chronische Schnupfenpatienten leiden häufig an einer Mittelohrentzündung (Otitis media) und meiden es, auf der betroffenen Seite zu kauen. Auch hierdurch erfolgt ein einseitiger Zahnabrieb.
Chronische Zahnfehlstellungen
Sind die Zähne in ihrer Position nicht exakt aufeinander abgestimmt, reiben sie sich auch bei naturnaher Fütterung mangel- oder fehlerhaft gegeneinander ab.
In diesem Fall bleibt dem Besitzer nichts anderes übrig, als die Zähne bzw. Zahnspitzen regelmäßig vom Tierarzt einschleifen zu lassen. Allerdings können die Intervalle, in denen diese für das Tier mit großem Stress verbundene Prozedur nötig ist, durch artgerechte Fütterung (vorzugsweise Wiesengrün; ersatzweise Blattgemüse und Küchenkräuter; zusätzlich Heu) in vielen Fällen entscheidend vergrößert werden.
Eine sorgfältige Beobachtung der Tiere ist in jedem Fall das A und O, um Probleme frühzeitig zu erkennen: Die Kaubewegungen, die Kaugeschwindigkeit, die "Essgewohnheiten" (Selektieren bestimmter Komponenten?), die Kopfhaltung während des Fressens, die Kotkonsistenz, das Körpergewicht und die Schneidezähne sollten stets gut im Auge behalten werden.
Die Ursachen für chronische Zahnfehlstellungen können genetisch bedingt oder während des Wachstums erworben worden sein.
Genetische Ursache
Ein sehr hohes Risiko für schwere Zahnerkrankungen bereits im jungen Alter haben Satinkaninchen. Hier sind regelmäßig Extraktionen kompletter Zahnreihen erforderlich, wenn die Tiere noch nicht einmal ein Jahr alt sind.
Weitere Rassen mit einem erhöhten Risiko für Zahnerkrankungen sind Widderkaninchen und besonders kurzköpfige Zwergkaninchen: Zwerge, denen das sogenannte “Kindchen-Schema” (= kindliches, “niedliches” Aussehen) angezüchtet wurde, leiden durch ihre runde, unnatürlich kurze Kopfform zum Teil unter genetisch bedingten Zahnfehlstellungen, da für ein intaktes Gebiss nicht genügend Platz in der Maulhöhle vorhanden ist.
Erworbene Fehlstellungen
Während des Wachstums, insbesondere in den ersten Lebenswochen, sind die Schädelknochen des Kaninchens noch ausgesprochen verformbar. Ist der Kiefer eines Jungtier durch ungeeignete Futtermittel (z.B. Pellets, Körner, Brot, ...) permanenten Fehlbelastungen ausgesetzt - was v.a. bei Züchtern und anderen Vermehrern sowie in Tierhandlungen oft der Fall ist, da eine möglichst "einfache" Fütterung angestrebt wird - manifestieren sich Veränderungen im Knochenbau, die dem Tier kurz- oder langfristig Probleme bereiten. Minimale Veränderungen bleiben mitunter jahrelang unerkannt, reizen den Knochen aber permanent und verursachen dadurch Spätfolgen.
Traumatische Ursache
Auch Gewalteinwirkung kann chronische Zahnfehlstellungen nach sich ziehen. Dazu gehören:
- Abbruch eines Schneidezahns, z. B. durch einen Sturz oder Zusammenstoß
- Backenzahnfraktur durch zu festes Zubeißen, z. B. auf ein Maiskorn oder eine Erbsenflocke
- Kieferfraktur, z. B. durch einen Sturz, Stoß oder Tritt
Verletzte Zähne wachsen zwar grundsätzlich nach, mitunter jedoch schräg oder verformt. Insbesondere, wenn es zu einer Eröffnung der Zahnpulpa kommt, dringen Bakterien ein und können das Gewebe so stark schädigen, dass kein (gesunder) Zahn mehr nachwächst.
Weiterhin ist es möglich, dass das Kaninchen nach einem Trauma sein Kauverhalten schmerzbedingt verändert: Auf der verletzten Seite wird weniger oder gar nicht mehr gekaut. Hierdurch können sich Zahnfehlstellungen entwickeln, die sich mitunter auch nach der Genesung nicht mehr (vollständig) zurückbilden.
Eine Kieferfraktur kann in vielen Fällen konservativ verheilen; es sind jedoch Verschiebungen möglich, durch die die Zähne nicht mehr zu hundert Prozent korrekt aufeinander stehen.
Oft ist im Nachhinein nicht mehr nachzuvollziehen, wodurch eine Zahnproblematik ursprünglich entstanden ist. Wichtig ist, mögliche Auslöser, soweit möglich, abzuklären und zu beseitigen. Unabhängig davon muss eine Zahnsanierung immer so schnell wie möglich erfolgen, da bestehende Probleme weiter voranschreiten, sich auf weitere Zähne ausbreiten und anderweitige Komplikationen nach sich ziehen können.